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„Zahnmedizin interdisziplinär“

Dr. Richard Grimmel, Dübendorf

Dr. Richard Grimmel, Dübendorf

Mo. 30 November 2009

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ZÜRICH – Ein Symposium zum Thema Zahnmedizin interdisziplinär fand an der Universität Zürich statt.

Dr. Irena Sailer, Abteilung Kronen- und Brückenprothetik, Teilprothetik und zahnärztliche Materialkunde (KBTM), und Dr. Marc Schätzle, Abteilung Kieferorthopädie und Kinderzahnmedizin (KO/KZM) der Universität Zürich, hatten ein dicht gedrängtes Programm organisiert, welches den Bogen umspannte von frühkindlicher Entwicklungsüberwachung bei Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalten bis zur fachübergreifenden Therapie im parodontal geschädigten Altersgebiss. Bewusst wurden besonders komplexe Fälle, die nur in Verbindung mit kieferchirurgischen Interventionen lösbar sind, ausgeklammert. Jeder prothetisch tätige Kollege hat Patienten, deren Probleme sich ohne einen koordinierten, mit einem Kieferorthopäden abgestimmten Therapieverlauf nicht lösen lassen. Dazu gehören gemäss Dr. Sailer beispielsweise Fälle mit ungünstiger Zahnmorphologie, unharmonischen Zahngrössen, fehlerhaften Zahnstellungen, Nichtanlagen, unharmonischem Zahnfleischverlauf und parodontalen Zahnwanderungen. Um Patientenbedürfnissen und therapeutischen Möglichkeiten voll gerecht zu werden, ist in solchen Fällen eine Abstimmung von kieferorthopädischem und prothetischem Behandlungsziel nötig.

Schlüsselfaktoren für einen Behandlungserfolg sind eine gemeinsame Diagnostik und Planung beider Disziplinen, eine Festlegung der Abfolge der Behandlung und eine zeitliche Planung der Behandlungsphasen sowie regelmässige Zwischenbefunde und Reevaluationen der gemeinsamen Wünsche. Erfolgt eine solche nicht, sind unbefriedigende Behandlungsergebnisse quasi vorprogrammiert, wie Dr. Schätzle an mehreren Beispielen verdeutlichte. In einem Fall waren die Knochenlager in den vom Kieferorthopäden geschaffenen Lücken ungeeignet für die – vom Kieferorthopäden angedachte – spätere Implantatversorgung durch den Prothetiker, in einem anderen Fall wurde der Wunsch des Patienten nach einer Zahnkorrektur erst nach erfolgter – und die kieferorthopädische Korrektur behindernder –  Implantatversorgung im kritischen Frontzahnbereich angegangen.

Interdisziplinäre Planung
Alle Vorträge des Symposiums waren geprägt von der Leitlinie einer frühzeitigen interdisziplinären Planung und kontinuierlichen Abstimmung während der laufenden Behandlung. Dieses Motto wurde zusätzlich dadurch vorgelebt, dass die Vorträge jeweils im 2er-Team von je einem Prothetiker und einem Kieferorthopäden gemeinsam gehalten wurden. Sowohl die Referenten aus der Privatpraxis als auch die aus der Universität zeigten eindrucksvolle Resultate bei schwierigen Ausgangslagen und komplexen
Behandlungsabfolgen.


Ernteten viel Lob für das Symposiums-Programm: Dr. Irena Sailer (KBTM) und Dr. Marc Schätzle (KO/KZM), Universität Zürich.

 Lückentherapie im Frontzahnbereich
Den Anfang machten Dr. Konrad Meyenberg und Marco Tribò mit dem Thema „Space management im Frontzahnbereich“. Grundsätzlich stehen drei Möglichkeiten der Lückentherapie zur Verfügung: Lückenschluss, Lückenöffnung und Lückenverschiebung. Nicht immer ist ein interdisziplinäres Vorgehen nötig. Dr. Meyenberg zeigte, wie – harmonische Zahnabstände vorausgesetzt – kleinere Lücken mit filigranen Kompositergänzungen oder grössere mit Veneers geschlossen werden können. Dr. Tribò stellte einen Fall einer Aplasie der OK 2er vor, der rein kieferorthopädisch durch Vorrücken der 3er ästhetisch ansprechend gelöst werden konnte. Gerade bei Nichtanlagen stellt sich oft die Frage der Lückenöffnung, um die Seitenzahnverhältnisse, Kieferform und -grösse stabil halten zu können. Obwohl die Implantatversorgung der Lücken auf der Hand zu liegen scheint, favorisiert das Duo Meyenberg/Tribò meist die Versorgung mit keramischen Adhäsivbrücken. Bei den oft jugendlichen Patienten kann so die Zeit bis zu einer Implantation nach sicher abgeschlossenem Wachstum ästhetisch ansprechend überbrückt werden. In vielen Fällen ist aufgrund der Platz- oder Grössenverhältnisse eine Implantation  nicht indiziert – immerhin sind bei einem 3 Millimeter-Implantat mindestens sechs Millimeter Platz erforderlich.

Hier ist eine Adhäsivbrücke, die übrigens einflügelig ausgelegt sein sollte, die einzig mögliche ästhetische Alternative. Mitunter ist die Verschiebung einer Lücke in einen ästhetisch weniger kritischen und leichter zu versorgenden Bereich günstig. Auch hier zeigten die Referenten Beispiele, wie kieferorthopädisch optimierte Lücken prothetisch so versorgt werden können, dass die ästhetischen Ansprüche des Patienten und die funktionellen Erfordernisse zur Deckung gebracht werden konnten.

Lückentherapie im Seitenzahnbereich
Die Turiner Privatpraktiker und Brüder Dr. Giuseppe und Dr. Delfino Allais demonstrierten mit Unterstützung von Zahntechniker Walter Gebhard Möglichkeiten des „Space managements im Seitenzahnbereich“. Mit den Mitteln des Lückenschlusses, der Lückenöffnung und der  Lückenverschiebung sowie der kieferorthopädischen Aufrichtung von gekippten und Intrusion von elongierten Molaren konnten sie einen Fall mit geringem prothetischen Aufwand (1 Krone, 2 Veneers und ein Implantat mit Krone) festsitzend lösen, der „normalerweise“ nur mit zusätzlichen Extraktionen und einer abnehmbaren Teilprothetik zu lösen gewesen wäre.

„Zahnmedizin interdisziplinär“ stiess auf grosse Resonanz.  

Was tun bei gefährdeten Zähnen?
Zahnbewegungen über die knöchernen Grenzen sind riskant und jeder kennt solche Fälle, wo nach einer Zahnkorrektur die Zähne zwar im Bogen stehen, aber Rezessionen von Gingiva und Knochen die Zahnstabilität gefährden könnten. Dr. Rino Burkhardt als Parodontologe und Dr. Giancarlo Baldini als Kieferorthopäde, beide in eigener Privatpraxis in Zürich tätig, gehen die Problematik vorausschauend an, indem sie bei gefährdeten Zähnen zum Knochenschutz die attached Gingiva vor Beginn der Zahnkorrektur z.B. durch ein Bindegewebstransplantat verstärken. Dr. Burkhardt zeigte je nach Tiefe und Breite der Rezession unterschiedliche Methoden der plastischen Deckung. Häufigere Ursachen als eine Kieferorthopädie sind Zungen-, Wangen- und Lippenpiercings, okklusale Faktoren oder übermässige Abrasion. Sie verlangen neben der Ursachenbeseitigung gegebenenfalls speziell massgeschneiderte parodontalchirurgische Eingriffe.

Minimalinvasiv und zahnschonend
Neben der „alten Garde“ der Kollegen mit 20 und mehr Jahren im Beruf kam auch die nachrückende
Generation zu Wort. Es war erfrischend und interessant zu sehen, dass die jüngeren Kollegen mit durchschnittlich zehn Jahren Berufserfahrung praktisch die Hälfte des Symposiums bestritten. Der mutige Schritt seitens der „elder chairmen“ Prof. Dr. Christoph Hämmerle, KBTM, und Prof. Dr. Timo Peltomäki, KO/KZM, den Jüngeren grosse Teile des Feldes zu überlassen, wird hoffentlich anerkannt und nachgeahmt werden. Frischer, neuer Wind ist besonders im Bereich der ästhetischen Zahnmedizin
wünschenswert, die in der Schweiz wie international in „Verneermania“, „Crownmania“ und „Implantmania“ zu versinken droht. Auf dem Symposium „Zahnmedizin interdisziplinär“ hatte man den Eindruck, dass seitens der Universität Zürich dieses Risiko erkannt ist. Minimalinvasive, zahnschonende und kostengünstige Lösungen wurden in den Vordergrund gestellt. So demonstrierten Dr. David Schneider (KBTM) und Dr. Michael Hänggi (KO/KZM) unter dem Titel „Die Tücke der Lücke“, wie sie bei einem mit begrenzten Mitteln ausgestatteten Service-Angestellten eine sehr komplexe Situation (überbreite Kiefer, relativ zu kleine Zähne, Zungenhabit, teilweise Kreuzbiss, dramatische Frontzahnlücke von 11 Millimeter im Unterkiefer) von der gemeinsamen Diagnose mit Abgrenzung der kieferorthopädischen wie der prothetischen Probleme über die gemeinsame Differenzialtherapieplanung zu einem abgestimmten Behandlungskonzept kamen.

Dieses wurde nach Absprache mit dem Patienten umgesetzt und führte zu einem Kompromissresultat,
welches trotzdem selbst hohen ästhetischen Ansprüchen gerecht wurde und die bestehende Funktion absicherte. Abschliessend zeigte Dr. Hänggi – als Warnflagge vor überoptimistischer  Indikationsstellung für Implantate im Jugendalter bzw. bei jungen Erwachsenen – einen Fall aus der Brånemark-Klinik. Einer 20-jährigen Frau wurde dort 1993 ein einzelnes Frontzahnimplantat (11) implantiert. Das Ergebnis war zunächst klinisch und ästhetisch einwandfrei. Aufgrund eines im Bereich der natürlichen Zähne fortgesetzten, im Bereich des Implantates aber zurückgebundenen Wachstums des Alveolarfortsatzes kam es über die folgenden Jahre allerdings zu einer dramatischen Diskrepanz der Zahnlängen und des Gingivaverlaufs. Die unansehnliche Situation eskalierte, sodass 2006 sämtliche Frontzähne zur Angleichung prothetisch versorgt wurden. Trotzdem war das Ergebnis schliesslich so unbefriedigend, dass kein Kollege seiner Tochter oder Ehefrau ein solches würde zumuten wollen.

(Erstmals und in einer längeren Version in der Dental Tribune Switzerland 11/2009 erschienen.)

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