ZÜRICH – Ursachenforschung und das Ableiten wirksamer und nachhaltiger Präventionsmassnahmen.
Aus der Aufarbeitung und Analyse von schweren Zwischenfällen können wichtige Lehren für die Verbesserung der Patientensicherheit gezogen werden. Im Rahmen einer solchen Analyse können Ursachen identifiziert und wirksame und nachhaltige Präventionsmassnahmen abgeleitet werden. In einigen Ländern, zum Beispiel auch in Australien, sind die Meldung von schweren Zwischenfällen und eine anschliessende Ursachenanalyse (root-cause-analysis, RCAs) verpflichtend für Spitäler. Der langfristige Nutzen einer RCA hängt wesentlich von der Wirksamkeit und Nachhaltigkeit der abgeleiteten Präventionsmassnahmen ab.
Hibbert und Kollegen untersuchten, welche Art von Massnahmen in RCAs abgeleitet wird. Sie werteten die schriftlichen Berichte zu 227 RCAs aus, die in Australien in der Folge von schweren Zwischenfällen in den Jahren 2010–2015 angefertigt wurden. Es handelt sich um schwere, melde- und aufarbeitungspflichtige Ereignisse mit Patientenschädigung, z. B. unbeabsichtigt im Patienten belassene Fremdkörper oder Suizid eines Patienten im Spital. Die in den Analysen abgeleiteten Massnahmen wurden extrahiert und durch Experten hinsichtlich ihrer „Stärke“ beurteilt. Dafür wurde ein bekanntes Kategoriensystem verwendet, welches Präventionsmassnahmen in „starke“, „mittlere“ und „schwache“ Massnahmen einteilt. Starke Massnahmen sind bei einer Implementierung nachhaltig und effektiv, ohne sich dabei auf das „richtige“Verhalten von Individuen zu verlassen. Beispielsweise gelten bauliche Massnahmen, Änderungen in der IT oder am Arbeitsmaterial, aber auch kultureller Wandel als starke Massnahmen.
Schwache Massnahmen hingegen zielen auf das Verhalten von Individuen ab, welches grundsätzlich durch viele Faktoren beeinflusst ist (z. B. Aufmerksamkeit, Ermüdung, widersprüchliche Prioritäten). Typische schwache Massnahmen sind Weisungen, Regelungen, Schulungen, deren nachhaltige Wirksamkeit unwahrscheinlicher ist.
In den 227 RCAs wurden 1’137 Massnahmen zur Prävention ausgesprochen (Durchschnitt 5/Ereignis). Von diesen wurden 8 Prozent als stark, 44 Prozent als mittel und 48 Prozent als schwach beurteilt. In 31 RCAs (15 Prozent) wurden ausschliesslich schwache Massnahmen empfohlen. Die am häufigsten empfohlenen Massnahmen waren „Anpassung von Regelungen, Weisungen, Dokumentation“, „Training und Ausbildung“, und „Entwicklung neuer Regelungen, Weisungen“. Zwei Drittel aller abgeleiteten Empfehlungen fallen in diese drei Kategorien.
Die Untersuchung von Hibbert et al. zeigt, dass die weit überwiegende Mehrzahl der in RCAs abgeleiteten Massnahmen nach schweren Zwischenfällen wenig effektiv und nachhaltig ist. Werden diese Massnahmen – und keine weiteren wirksameren Aktivitäten – umgesetzt, ist ein substanzieller Beitrag zur Prävention von ähnlich schweren Zwischenfällen unwahrscheinlich. Hibbert und Kollegen bestätigen damit frühere Untersuchungen aus den USA (z. B. KM Kellogg et al. 2017). Die Ergebnisse sind auch deshalb so prägnant, weil sie sich auf ein Set von klar definierten, schweren und grundsätzlich vermeidbaren Zwischenfällen („never events“) beziehen. Das Auftreten dieser Ereignisse würde mit der Umsetzung starker Massnahmen im Vergleich mit schwachen Massnahmen wahrscheinlich deutlich oder sogar vollständig reduziert werden können. Die Autoren vermuten, dass die Tiefe der Ursachenanalyse ein Grund dafür ist, dass primär schwache Präventionsmassnahmen abgeleitet werden. Beschränkt sich eine Analyse beispielsweise auf den „aktiven Fehler“ einer Person (z. B. die Verwechslung eines Medikaments), dann liegt es nahe, eine Massnahme abzuleiten, die sich genau auf diesen Umstand bezieht (z. B. eine menschliche Doppelkontrolle oder ein Training zur Schulung des Medikamentenwissens). Untersucht eine Analyse hingegen auch die Umstände, in denen der Fehler stattgefunden hat (z.B. täuschend ähnliche Medikamentenverpackungen), dann liegt eine starke Massnahme, nämlich das Redesign der Verpackung, näher. Eine weitere Ursache für die Ableitung primär schwacher Massnahmen wird darin vermutet, dass starke Massnahmen häufig initial sehr viel mehr Aufwand bedeuten und oft nur mittel- oder langfristig umsetzbar sind. Solche Erfahrungen der „Lähmung“ können Beteiligte unbewusst dazu verleiten, schneller und einfacher umsetzbare Massnahmen zu bevorzugen, auch wenn diese nicht effektiv und nachhaltig sind.
Fazit
Die Ergebnisse laden dazu ein, ernsthaft über die bisherige Praxis von Ursachen- und Fehleranalysen nachzudenken. Zum einen könnte die Massnahmenintensität bereits stärker im RCA-Prozess eingebettet sein oder dieser Fokus durch Fachpersonen mit entsprechender Expertise begünstigt werden. Zum anderen mehren sich die Belege, dass zumindest bei schweren Zwischenfällen konzertierte Aktivitäten (z. B. auf nationaler Ebene) eher zur Ableitung und Umsetzung starker Massnahmen führen können.
Quelle: D. Schwappach. Paper of the Month Nr. 72. Patientensicherheit Schweiz. Zürich.
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