BERN – Am 4. März 2018 hat die Waadtländer Bevölkerung über die Einführung einer kantonalen Zahnversicherung abgestimmt. Statt des millionenschweren Totalumbaus sei es effizienter, die bestehenden Unterstützungsleistungen bekannter zu machen und gezielter auf die Bedürftigen auszurichten. Dies hält ein aktuelles Gutachten des Gesundheitsökonomen Willy Oggier fest.
Die politischen Initiativen um eine obligatorische Zahnversicherung stellen das Schweizer Modell der Zahnmedizin offen infrage. Wenige Wochen vor der Abstimmung im Kanton Waadt zeigt sich nun, dass weite Bevölkerungskreise in der Schweiz nicht wissen, dass Sozialversicherer und Sozialdienste in den Kantonen und Gemeinden die Kosten für Zahnbehandlungen von benachteiligten Personen ganz oder teilweise übernehmen. Zu diesem Schluss kommt ein unabhängiges Gutachten des Gesundheitsökonomen Willy Oggier. Willy Oggier hat im Auftrag der Schweizerischen Zahnärzte-Gesellschaft SSO eine schweizweit durchgeführte Umfrage unter mehr als 1'100 Personen ausgewertet.
Hohes Informationsdefizit
Knapp sieben von zehn befragten Personen (69%), die in den letzten Jahren aus Kostengründen auf eine notwendige Zahnbehandlung verzichteten, haben vorgängig nicht abgeklärt, ob Ergänzungsleistungen oder Sozialdienste die Zahnbehandlung finanziell unterstützen. Dass Sozialversicherungen die Kosten respektive einen Teil der Kosten von zahnärztlichen Behandlungen (z.B. bei Geburtsgebrechen, Unfall, Invalidität) übernehmen, ist gut einem Drittel aller Befragten (34%) nicht bekannt. Bei Personen mit tiefer Schulbildung ist der Informationsmangel noch ausgeprägter. Ausgerechnet jene Patientinnen und Patienten, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auf finanzielle Unterstützung angewiesen sind, klären ihre sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche am wenigsten ab. Diesen Missstand würde auch eine obligatorische Zahnversicherung nicht beseitigen, weil sie genau gleich funktioniert (Finanzierung über Lohnprozente) wie die bestehenden Sozialversicherungen. Willy Oggier ist überzeugt: „Eine Sozialversicherung für zahnärztliche Behandlungen dürfte gerade in jenen Zielpublika am wenigsten durchdringen, die von den Initianten eines solchen Begehrens als soziale Argumentation verwendet werden“.
Zuerst Potenzial des bestehenden Modells ausschöpfen
Aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse folgert Willy Oggier, dass im bisherigen System erhebliche Effektivitäts- und Effizienzverbesserungspotentiale stecken, die genutzt werden sollten, bevor über fundamentale Systemänderungen wie eine kantonale Zahnversicherung nachgedacht wird. Wo kantonale und kommunale Unterstützungssysteme bestehen, sind diese so bekannt zu machen, dass die betroffenen Personengruppen davon erfahren. Weiter sind die Antragssysteme für zahnmedizinische Unterstützungsleistungen soweit wie möglich zu vereinfachen. Neben den Behörden sieht Oggier vor allem Patienten- und Konsumentenschutz-Organisationen aber auch Selbsthilfe-Gruppen und Akteure wie die Schweizerische Zahnärzte-Gesellschaft SSO in der Pflicht.
Oggier schlägt vor, die Präventionsarbeit gezielter auf die verschiedenen Zielgruppen auszurichten. So könnten Schulzahnpflegen und schulzahnärztliche Dienste, Kindergärten, Kinderkrippen und Mütterberatungsstellen ihre bestehende Aufklärungsarbeit intensivieren. In Stamm-Zahnarzt-Modellen könnten frei praktizierende Zahnärzte im Auftrag der öffentlichen Hand Patientinnen und Patienten informieren. Und speziell geschulte Mediatoren würden in Kultur- und Sportvereinen sowie in Kirchgemeinden und an religiösen und anderen Volksfesten auftreten und die Anwesenden über die Mundhygiene und Zahnprophylaxe orientieren.
Für die Schweizerische Zahnärzte-Gesellschaft SSO machen die Vorschläge von Willy Oggier deutlich: Das bestehende Versorgungsmodell lässt sich mit einfachen, wirksamen und kostengünstigen Massnahmen – gezielt zum Wohle der Benachteiligten – verbessern. Es braucht das teure Versicherungsobligatorium nicht.
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